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Am Grenzübergang Sonnenallee
Jeannette Süß
Taschenbuch
Verlag DeBehr
1. Auflage, August 2010
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09.11.1989. Berlin. Grenzübergang Sonnenallee.
Ich schaue aus dem Fenster meiner 2-Raum-Wohnung im Heidekampweg 2 in
Berlin-Baumschulenweg, und zwar direkt auf den Grenzübergang Sonnenallee. Es
ist dunkel in meiner Straße, nur der Grenzübergang ist wie immer hell beleuchtet.
Eine der Grenz-Laternen leuchtet direkt in mein Wohnzimmer. Wie jeden Abend
schließe ich deswegen meine Vorhänge. Es ist 20.15 Uhr.
Auf der Straße sehe ich einige Menschen unmittelbar am Grenzübergang stehen.
Ich wundere mich etwas darüber, da diese Gruppe aus 12 Personen besteht. Das
ist ungewöhnlich, denn sonst sieht man dort höchstens 2 oder 3 Personen, die auf
jemanden warten. Auf die Oma, um beim Tragen ihrer Taschen von den
Westeinkäufen zu helfen oder auf Verwandte, die aus dem Westen zu einem
besonderen Anlass in den Osten reisen. Außerdem finde ich es merkwürdig, dass
sie so dicht vor dem Tor stehen, vielleicht nur 2 bis 3 Meter Abstand halten.
Normaler Weise achten die Grenzer darauf, dass keiner so dicht davor steht, und
schon gar nicht eine größere Gruppe.
Also beobachte ich die Leute für einen Moment. Dabei fällt mir auf, dass die
Leute, zwar relativ dicht beieinander stehen, aber irgendwie trotzdem nicht
zusammen gehören. Und ich meine, es sieht sogar aus, als ob diese Leute mit den
Grenzern reden. Und das finde ich seltsam. Keiner traut sich sonst die Grenzer
anzusprechen. Was soll man mit denen auch reden. Nach dem Weg fragen? Übers
Wetter? Es gibt echt keinen Grund die anzuquatschen.
Ich bin neugierig. Frage meinen Freund, was er davon hält. Er findet das auch
komisch. Uns packt die Neugier und wir beschließen mal eben runter zu gehen,
um festzustellen, was da los ist. Vorher schaue ich noch in das Zimmer meiner
kleinen Tochter, die gerade erst ihren 3. Geburtstag gefeiert hat. Meine Kleine
schläft. Also gehen wir kurz vor die Tür.
Es sind vielleicht nur 40 Meter von der Haustür bis zum Grenzübergang. Wir
gehen in Richtung Grenzübergang und bleiben bereits nach wenigen Schritten
stehen. Ich möchte erst mal nicht so dicht bei der Gruppe unmittelbar am
Grenzübergang stehen.
Denn zu dicht an dem Grenzübergang zu stehen, ist
schließlich nicht ganz ungefährlich. Es könnte ja sein, dass jemand von den
Grenzern zu uns kommt und unsere Ausweise sehen will. Dann werden wir bei
der Stasi gemeldet. Im schlimmsten Fall nehmen sie uns gleich mit. Jeder weiß,
was dann passieren könnte. Die Stasi wird uns unterstellen, flüchten zu wollen.
Wir werden festgenommen und in eine Zelle gesteckt. Allein bei diesem
Gedanken wird mir angst und bange. Ich möchte eigentlich doch zurück in meine
Wohnung und die Tür hinter mir zu machen. Aber irgendetwas hält mich davon
ab.
Mein Vater hatte Mal eine ziemlich unangenehme Begegnung, mit der Stasi,
genau an diesem Grenzübergang. Auch aus diesem Grund fühle ich mich unwohl,
so dicht vor dem Grenzübergang.
Wir stehen da also, einfach so, genau in der Mitte, zwischen Haustür und
Grenzübergang. Wir schauen ab und zu hoch zu unserer Wohnung und tun so, als
würden wir auf jemanden warten. Dirk macht sich erst mal eine Zigarette an. Wir
beobachten nebenbei die kleine Menschengruppe vor dem Grenzübergang, so
unauffällig wie möglich. Ich traue mich jedenfalls nicht irgendwen dort zu fragen,
was los ist. Zu viel jahrelang eingehämmerter Respekt, vor dieser Grenze und ihre
Bewacher, hält mich davon ab. Also stehen wir weiter, einfach so und warten. So
wie die anderen, die scheinen ja auch auf irgendetwas zu warten.
Wir stehen keine 2 Minuten hier, als plötzlich jemand lautstark ruft: „Macht
endlich das Tor auf“. Ich denke in diesem Moment, mein Gott, was der sich traut.
Hat der denn keine Angst. Warum sagt der denn sowas. Ich habe ein ungutes
Gefühl, so, als ob gleich etwas Furchtbares passiert.
Mein Vater hat hier auch mal gerufen: „Macht das Tor auf!“. Da war er aber
ziemlich verzweifelt und hatte sich vorher etwas Mut angetrunken. Weil ich
damals, 1987, keine Wohnung bekam und mit meinem Baby im Wohnzimmer
meiner Eltern wohnte, beschloss er nach einem Kneipenbesuch zum
Grenzübergang Sonnenallee zu gehen. Er forderte die Grenzer auf, ihn durch zu
lassen. Er will mal drüben Fragen, ob sie eine Wohnung für seine Tochter und ihr
Baby haben. Das war für die Stasi-Leute Grund genug, meinen Vater für 24
Stunden in Gewahrsam zu nehmen und ihn stundenlang zu verhören.
Ich meine, hätten die ihn nicht einfach fortschicken können?
Wir bleiben also starr an unserem Platz stehen. Wir signalisieren, nicht zu der
Gruppe zu gehören und überlegen, ob wir besser wieder gehen. Aber es passiert
nichts. Damit haben wir nicht gerechnet. Stattdessen kommen weitere Menschen
hinzu, vielleicht sind es jetzt so 20 oder 25 Personen und alle werden etwas
unruhiger. Und auf einmal spricht hier jeder mit jedem. Jetzt will ich es aber
wissen und habe meinen ganzen Mut zusammengepackt und bin mit Dirk an die
Menschengruppe ein Stückchen näher gerückt, um besser verstehen zu können,
was die Leute reden.
Wie? Die Mauer soll weg? Ich verstehe nicht was hier eigentlich los ist. Bis ich
noch mehr höre: „Das wurde doch gerade in den Nachrichten gebracht. Wir
können jetzt alle rüber und das sofort.“
(c) Text und Fotos: Jeannette Süß
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