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Geflüchtet.
Zu zweit in den Westen
von Peter Tannhoff
123 Seiten
broschiert
1. Auflage 2006
Verlag Ludwig, Kiel
ISBN 3937719385
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Aus Kapitel 7 / S. 29
.....Im Moment ließ sich weit und breit kein Mensch blicken. In der näheren Umgebung lag kein Anwesen, halbhohe Maisfelder dehnten sich Richtung Westen. Alle fünfzig Meter stand ein Grenz-Warnschild. Die dichten Felder kamen mir sehr gelegen. Ich überlegte einen Moment lang, ob es geschickter wäre, wenn sich Claudia mit dem Motorrad sofort in dem Mais versteckte, oder ob wir eine Fahrzeugpanne vortäuschen sollten. Letzteres schien mir die sicherere Variante zu sein, da uns schon bei unserer Ankunft ein getarnter Posten beobachtet haben könnte. Zum Schutz gegen die glühende Sonne stellten wir die Maschine unter einen Baum, wo Claudia sich ausruhen und etwas essen konnte. In der Zwischenzeit schloß ich den Seitenbunker auf und breitete das Werkzeug auf dem Boden aus.
Jetzt wurde es langsam spannender, als mir lieb war. Ich hing mir mein kleines Fernglas um und verschwand in den Feldern. Meter für Meter, und mich dabei grob am Sonnenstand orientierend, arbeitete ich mich je nach Höhe des Maises mal geduckt, mal robbend vorwärts. Wie weit sich an dieser Stelle der Sperrgürtel ausdehnte, wußte ich nicht, nur die Richtung war sonnenklar. Mit einem Male hörte das Feld auf und ich stand vor einem Stacheldrahtzaun. Noch die Tarnung des Feldes nutzend, beobachtete ich das Areal hinter dem Zaun. Auf dem leicht ansteigenden Gelände erspähte ich einen Wachturm, der völlig anders ausschaute als seine Pendants an der innerdeutschen Grenze. Statt massiver Betonquader fand ich hier Gerüste von ca. zwanzig Metern Höhe vor, bestehend aus Stahl und Holz mit aufgesetzter Plattform, ähnlich den Wachtürmen eines klassischen Westernforts. Als ich die Posten durch den Feldstecher betrachtete, war mir sofort klar, daß wir bei Tage hier nicht die leiseste Chance hatten. Es sei denn, die Wachsoldaten nähmen ihren Dienst so ›genau‹ wie ich seinerzeit in Tautenhain auf Wache. Aber darauf zu spekulieren hieße, Russisches Roulette zu spielen. Außerdem konnte ich vor dem Turm auch einen weiteren Drahtzaun erkennen, welcher nicht ganz so hoch zu sein schien wie die innerdeutschen. 'Ob da eine gute Drahtschere nützt?’ fragte ich mich. Erst frühestens mit Einbruch der Dämmerung war daran zu denken, die Sache genauer unter die Lupe zu nehmen. Und für diesen Fall, wie auch für die entscheidende Stunde der Flucht, wäre ein Nachtsichtgerät von unschätzbarem Wert. Doch woher nehmen? Gern hätte ich mir eine Lageskizze sowie ein paar Notizen gemacht, doch was, wenn mich auf dem Rückweg eine Streife erwischte? 'Zu gefährlich’, verwarf ich den Gedanken, 'dann muß ich mir das eben alles haarscharf einprägen’.
Einen ersten Eindruck von den Verhältnissen hatte ich nun gewonnen. Claudia würde wahrscheinlich schon langsam unruhig werden, weil ich sie so lange allein ließ. So machte ich mich vorsichtig auf den Rückweg durch den Mais. Nicht zu fassen, selbst hier, in angespannter Konzentration, flitzten die eigenartigsten Gedanken durch meinen Kopf! Der Mais erinnerte mich an einen Spruch des ehemaligen Staats- und Parteichefs Walter Ulbricht, wie er sich während einer seiner grotesken Reden auf irgendeinem Parteitag lautstark theatralisch an die Bauern gewandt hatte, um einmal mehr Produktionssteigerung zu beschwören: »Der Mais, Genossen, ist die Wurst am Stengel!« Durch dieses amüsante Bild etwas gelockert, schätzte ich, daß nur noch ein kleines Stück bis zum Feldrand zurückzulegen blieb. Deshalb hielt ich inne und horchte. Was war das? Zweifellos Claudias Stimme, die in meine Ohren drang! Da sie normalerweise ziemlich ruhig und sanft sprach, deutete ich ihr ungewöhnlich lautes Sprechen als Warnsignal, damit ich mich bei meinem Auftauchen aus dem Feld gemäß meiner vereinbarten Rolle verhielt. Wenn sie so klang, mit diesem gewissen Tonfall, dann hatte sie Angst. Selbige ergriff nun auch zusehends von mir Besitz. Und wohin jetzt mit dem Feldstecher? Unter diesen Umständen würde ich ihn schwerlich als Touristenutensil deklarieren können. So blieb mir nichts anderes übrig, als schnell einen markanten Feldstein zu suchen und darunter die Jena-Optik in der Hoffnung zu verstecken, sie auch wiederzufinden.
Beherrscht langsam trat ich aus dem Feld und gewahrte eine Grenzstreife, bestehend aus drei Männern und einem leider nur allzu gut vertrauten, armeegrünen LKW W50 mit Pritschenaufbau aus DDR-Produktion. Als sie mich bemerkten, wandten sie sich augenblicklich von Claudia ab. Zwei von ihnen stürmten auf mich zu. Ohne Zögern schritt ich ihnen entgegen und fragte mit gespielt erstauntem Blick, was denn hier los sei. Sofort brüllte es: »Visa-Papier!!! Dokument!!! Papier!«. Ich holte meinen Personalausweis aus der Tasche, und – den Schulterklappen nach zu urteilen – ein Unteroffizier riß mir das Dokument rabiat aus der Hand. Ich versuchte, Claudia einen beruhigenden Blick zuzuwerfen, welchen sie auch auffing. Dann setzte ein Hagelschauer aus unverständlichem Kauderwelsch ein. Uns blieb nichts weiter übrig, als mit dem Kopf zu schütteln und ruhig auf Deutsch zu antworten, daß wir nichts verstünden. Um meinen guten Willen zu demonstrieren, sprach ich den Anführer, einen ziemlich struppigen, schwarzhaarigen Leutnant mit geschwungener Nase und dunklen Augen, auf Russisch an. Das schien dem Burschen aber, seinem finsteren Blick nach zu urteilen, erst recht nicht zu gefallen. Anscheinend waren die Russen als Besatzungsmacht hier noch unbeliebter als in der DDR.
Ehe ich mich versah, durchsuchten sie akribisch alle meine Taschen, tasteten mich von unten bis oben ab. Sichtlich enttäuscht, nichts Relevantes gefunden zu haben, bedeuteten sie mir herrisch, zum Motorrad zu gehen. Mein Ausweis wurde allem Anschein nach konfisziert, denn sie machten keine Anstalten, ihn wieder herauszurücken. Als ich Claudia fragen wollte, ob man ihr den Paß ebenfalls schon abgenommen hätte, brüllte der Leutnant auf mich ein. Sein drohend erhobener Zeigefinger konnte nur bedeuten, daß wir nicht mehr miteinander sprechen durften. Also versuchte ich einfach mein Glück mit Englisch, aber völlig ohne Erfolg. Keine Reaktion. Nicht zu fassen, daß hier keiner auch nur ein Wort Englisch sprach. Mit Gebärden und Handzeichen machten sie mir klar, daß ich den Motor der MZ starten solle. Wenn die Maschine jetzt ansprang, hätten sie deutliche Indizien dafür, daß das ausgebreitete Werkzeug nur als Alibi für den verbotenen Aufenthalt in Grenznähe diente und dann gnade uns Gott! Doch für jegliche Manipulation war es jetzt zu spät. Mit Argusaugen wachten die Schergen über jede meiner Handbewegungen. Darum versuchte ich erst einmal den Eindruck zu erwecken, die Maschine anwerfen zu wollen, allerdings absichtlich ohne Betätigung des kleinen Starterhebels. Doch schon nach drei Versuchen drängte mich der Unteroffizier beiseite.
Den Hebel wie selbstverständlich nach vorn schiebend und dabei noch Gas gebend, versuchte er es selbst. Aber zu meiner großen Überraschung und Erleichterung sprang die Maschine nicht an. Von Claudia fing ich einen vielsagenden Blick auf. Ehe ich mich versah, machten sich die beiden Untergebenen des Leutnants an der MZ zu schaffen. Schnell wurde deutlich, daß diese Burschen mit der DDR-Motorradtechnik bestens vertraut waren, da selbst hier in Ungarn auch nur diese eine Zweiradmarke existierte und rein gar nichts aus Eigenproduktion. Höchstens eine altersschwache JAWA aus tschechischen Landen war vereinzelt noch zu finden. Und so mußte ich mit ansehen, wie sie erst die Zündkerze herausschraubten, überprüften, wieder einsetzten, dann den Vergaser demontierten und wieder zusammenbauten. Nach erneuten vergeblichen Startversuchen kamen sie auf den Trichter, den Zündfunken zu überprüfen. Als sie zu meiner großen Verwunderung feststellten, daß keiner vorhanden war, gaben sie auf. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu, oder hatte etwa Claudia…? Sie hatte… Sie musste… Der Geheimschalter unter der Sitzbank war des Rätsels Lösung!!! Erst kürzlich hatte mich ihr technischer Einfallsreichtum schwer beeindruckt: Noch drei Wochen vor unserem Aufbruch war sie mit dem Trabi ihrer Eltern von Sonneberg nach Erfurt unterwegs gewesen. Mitten im Thüringer Wald, weit und breit keine Ortschaft, blieb das Vehikel liegen und sprang nicht mehr an. Claudia holte das Bordwerkzeug heraus, demontierte kurzerhand den Vergaser, entdeckte ein winziges Loch im Messing des Schwimmers und versiegelte es mit einem Stückchen Kaugummi. Die Benzinsäule im Schwimmergehäuse erreichte wieder ihre richtige Höhe, und die Fahrt konnte weiter gehen. So einfach ließ sich in der DDR ein ›Auto‹ reparieren.
Plötzlich gab der Leutnant lautstark ein Kommando, das ziemlich sicher auf weiteren Ärger hindeutete. Claudia mußte in Begleitung des Fahrers ins Führerhaus des W50 klettern. Der mürrische Leutnant klappte die Bordwand herunter und verlangte mittels unmißverständlicher Gebärden, die MZ dorthin zu schieben. Zu dritt stemmten wir die Maschine dann an Bord, und schon ging es in rasanter Fahrt vermutlich Richtung Grenzgarnison Köszeg. Mir war absolut klar, daß sie uns jetzt unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers verhören würden. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit getrennt, wie mich die Erfahrungen von Tautenhain gelehrt hatten. Auf keinen Fall durften wir uns in unseren Aussagen widersprechen. Die Folgen wären gar nicht auszudenken gewesen. Voller Unruhe fragte ich mich wiederholt, ob Claudia in solch einer Situation die Nerven behalten würde...
Text mit freundlicher Genehmigung
von Peter Tannhoff
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